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Aleksei Grinenko: »Seriously Mad«

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Dieses Buch ist der Versuch des Autors Aleksei Grinenko, zu untersuchen, wie sich die Entwicklung des Forschungsstands der Wissenschaft zum Thema Geisteskrankheiten/Wahnsinn (Grinenko verwendet den Begriff »madness«, aber in feiner Unterscheidung zu etwa »cognitive/mental disability«. Es ist ein stimmiges Balancieren der Begrifflichkeiten durch Kontext und Zeit, das er in seinem Werk entwickelt) anhand der Geschichte des Musicalgenres nachvollziehen lässt. Konkret geht es unter anderem darum, wie sich Fortschritte in der Mainstream-Psychiatrie in Texten, die für ein Broadway-Publikum geschrieben wurden, spiegeln. Grinenko bezieht sich in seinen Analysen in erster Linie auf die Entwicklung der Forschung in den USA, auf die Broadway-Produktionen der besprochenen Musicals und zum Teil auch auf deren Originalinszenierungen.

Der Autor hat einen interessanten biografischen Background. So arbeitet er seit Dezember 2022 in New York als Private Client Group Specialist bei Yieldstreet, einem Unternehmen, das als Plattform für alternative Investments (Kunst, Immobilien, Rechtswesen) gilt. Daneben ist er Adjunct Professor an der New York University, wo er auf Cloud-based Learning Management Systems (wie Brightspace) spezialisiert ist. Seit Beginn der 2010er-Jahre verfasst er wissenschaftliche Artikel und Kritiken, gibt theaterwissenschaftliche Kurse am New Yorker City Collge, derzeit ist er an der Tisch School of Arts tätig, spezialisiert auf »Theatre and Performance: History, Theory, and Criticism«, »Madness Studies/Disability Studies«, »Music Theatre«, »Feminist and Queer Theatre« und »Russian Theatre«. 2009 bis 2019 war er Producer und Consultant bei der New Musical Territory Theatre Company. In diese Zeit fällt seine Übersetzung des Musicals »Next to Normal“ ins Russische. Als Produzent brachte er die ersten Aufführungen von »West Side Story und »Next to Normal« in Weißrussland auf die Bühne (ausgezeichnet mit einem Belarus National Theatre Award).

Grinenko ist ein Spezialist im Sezieren von Bühnenmomenten in Bezug auf dahinterstehende psychologische Motivation, beeinflusst zum Beispiel von Susan McClarys Schriften bezüglich »Wahnsinnsszenen« in der Oper. Die singende Verrückte, so McClary, verleiht nicht nur den Symptomen des Wahnsinns eine Stimme, sondern musikalisiert auch ihre subjektiven Gefühle, indem sie im Raum der affektiven Begegnung zwischen Darstellerin und Publikum agiert. So vermittelt die Musik ein Gefühl von Tiefe und gewährt den Zuschauer:innen das Erlebnis, das Innere der Figur zu belauschen. Grinenko analysierte 2012 in seinem Artikel »Follies Embodied: A Kleinian Perspective« für »Studies in Musical Theatre« (6/3, 2012, 319) Bernadette Peters’ Interpretation des Songs »Losing My Mind« in Eric Schaeffers »Follies«-Revival von 2011: »In ›Losing My Mind‹ Sally confesses to standing ›in the middle of the floor, not going left, not going right‹ – a behaviour indicative of severe psychic pain. The emphasis of Bernadette Peters’ performance in this torch song is revelatory. Each time her Sally reaches these lines, she nearly brings the song to a halt, as though she has come up against a physical wall. She stands still a moment and then begins to push her way through the lyrics angrily fighting a palpable sense of inner immobility. Although ›Losing My Mind,‹ as performed by Peters, retains its face vale as a song about unrequited love, it comes forth more prominently as a close examination of inner rage colliding against the paralysis of depression.«
2019 dissertierte Grinenko mit seiner Arbeit »Madness and the Broadway Musical, 1940s–2000s« am CUNY Graduate Center. Sie ist die Grundlage für das hier besprochene Buch.

Mainstream- und Experimentalbühnen fungierten und fungieren als wichtige kreative Orte für die Ausarbeitung von Ideen über den menschlichen Verstand, Emotionen und den Körper. In diesen kulturellen Räumen für die Artikulation und das Nachdenken über die Art und Weise, wie man fühlen, denken oder handeln soll, versuchen Autoren mithilfe theatralischer Darstellungen des Wahnsinns zur Diskussion zu stellen, was als normal gilt und was als pathologisch. Auch in Musicals wurden und werden immer wieder maßgebliche medizinische Modelle von Geisteskrankheit und -gesundheit dargestellt, womit ihre Autoren gleichzeitig auch den historischen Wandel von allgemein verbreiteten Annahmen über menschliche Subjektivitäten beeinflussen.

Die Frage, wie Geisteskrankheiten entstehen, birgt für die Forschung nach wie vor viele Rätsel. Grinenko stellt in seinem Buch die These auf, dass in Musicals zu bestimmten, historisch für die Forschung wichtigen Zeitpunkten auf die Vorherrschaft bestimmter Theorien reagiert wurde, womit gleichzeitig eine Art der Beeinflussung entstehen konnte. Wobei es ihm wichtig ist, zu betonen, dass es im Lauf der Zeit nie einen Zeitpunkt gab, zu dem sich alle Theaterautor:innen auf ein bestimmtes Modell geeinigt hätten. »But following the work of historians of madness and mental health, I delineate cultural moments, or, to borrow Ian Hacking’s notion, ›ecological niches,‹ characterized by a groundswell of ideas, images, sounds, and narratives catalyzing around shared clinical and artistic emphases and strategies in envisioning and accounting for mental distress. During such periods, certain facets of madness appear to eclipse others, lingering at the center of public discourses long enough to signal an ascendant trend in mainstream culture and, for my purposes, the Broadway musical.«

Auf einer anderen Ebene entwickelt der Autor eine weitere These. So argumentiert er, dass das Bühnenmusical seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das symbolische Kapital der psychoanalytischen Erkenntnisse benützt habe, um die Ernsthaftigkeit des Genres zu untermauern. Sowohl die Psychoanalyse als auch das Musical erlebten in den 1940er- und 1950er-Jahren ihr »goldenes Zeitalter«. In dieser Zeit wurde verstärkt die »psychologische Tiefe« als Instrument eingesetzt, um das Profil von Broadway-Musicals zu schärfen. Bis heute dient der Begriff »psychologische Tiefe« dazu, Musicals eine Art von »Intellektualität« zuzuschreiben. Was wiederum nicht nur für das Schreiben von Musicals gilt, sondern auch Kritiker für ihr Handwerk verwenden, das Beurteilen von Bühnenwerken.

Grinenko gliedert sein Buch in drei Großkapitel (»Madness in the Mind«, »Madness in the Society« und »Madness in the Brain«). In Teil eins konzentriert er sich auf die Shows »Very Warm for May« (1939), »Lady in the Dark« (1941), »Oklahoma!« (1943) und »The Day before Spring« (1945) (erwähnt und auch besprochen werden nebenbei in jedem Kapitel viele weitere). »Historians and critics single out this decade as a paradigm-shifting period during which creative teams begin to develop more sophisticated modes of characterization, moving the art form from types to individuals and from musical comedy to musical drama. At the core of the emotional and mental suffering assigned to the deep, tragically tinged character model in these shows is inner conflict, a foundational theatrical concept made clinically relevant and culturally chic through psychoanalysis.« Teil zwei behandelt »Anyone Can Whistle« (1964), »Man of La Mancha« (1965), »Dear World« (1969), »Prettybelle« (1971), »King of Hearts« (1978), »Sweeney Todd« (1979) und »Ain’t Supposed to Die a Natural Death« (1971). Und Teil drei: »Charlie and Algernon« (1980) sowie das Herzstück dieses Buchs »Next to Normal« (2009). Weiters geht es hier um »Passion« (1994), »Jekyll & Hyde« (1997), »A New Brain« (off-Broadway, 1998), »The Light in the Piazza« (2005) und »Be More Chill« (Broadway, 2019). Wie viele Details Grinenko beim Sezieren von »Next to Normal« sichtbar macht, ist erstaunlich und reicht von genauen und packenden Song- und Szenenanalysen über die Decodierung des Marketings der Show bis zu einer Einordnung der Vorgehensweise der Autoren bei ihrer Auswahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Erarbeitung der Show – immer im Rahmen des Konzepts des Buchs. Und wie schon bei der faszinierenden oben erwähnten Beschreibung von Bernadette Peters’ Auftritt in »Follies« widmet sich der Autor auch den Performances der Darsteller von »Next to Normal«. »The collective character of the psychomachia in ›Next to Normal‹ draws distinctions and builds alliances. By involving Gabe, a figure of the unconscious, in the visual and aural composition of three different minds on stage and by leaving interrelations among these interior proceedings largely open to interpretation, the musical proposes that there is an infinity of divergent ways in which the psyche can spin the same set of shared or witnessed life experiences. Yet by staging the daily convergences of these three minds within a unified realm of fantasy, the musical also hints at the notion of the family itself possessing an unconscious, a connective tissue of mutuality that holds these people together, despite the divisive idiosyncrasies of discreet subjectivities.« »In this musical, the grooves left by the acts of madness in the social fabric of the world lead to new definitions of one’s self-worth and well-being, to which the light of the final song brings visibility and respect. In the closing verses, the characters shed their shame about depression and, addressing the world, come out as emotionally and mentally wounded. Standing in the dazzling sunbeams of the projectors, they embrace the full spectrum of their feelings and invite the audience to ›open up‹ and join forces in the ›fight‹ against the stigmatization of madness, illness, and, yes, unhappiness in American culture.« 283 Seiten hat das Buch, 80 davon beinhalten Anmerkungen zum Text, ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Stichwortregister. Ganz große Leseempfehlung.

Aleksei Grinenko: Seriously Mad. Mental Distress and the Broadway Musical. University of Michigan Press, Ann Arbor 2023. ISBN 978-0-472-07644-4. $ 85,00. press.umich.edu

Volksoper Wien: »tick, tick… BOOM!«

volksoper2023.jpgMinuten vor Showbeginn. Bühnennebel wabert in den Saal, aus den Boxen hört man leise Songs von Prince, Billy Joel. Die Musik wird lauter – Nirvana. Wie ein Rockkonzert ist der Beginn von Jonathan Larsons Musical »tick, tick… BOOM!« inszeniert. Am Ende schenkt der von der Presse als »schärfster Drummer der Republik« apostrophierte Mario Stübler nach einer fantastischen Performance seine Sticks zwei Zuschauer:innen.

Ein Déjà-vu. Wie ihr Vorgänger Robert Meyer setzte auch Lotte de Beer, aktuelle Direktorin der Volksoper, in ihrer ersten Spielzeit keine Musicalneuproduktion auf den Spielplan. Meyer startete den Reigen seiner Neuinszenierungen im Rahmen des Volksopernüblichen (»Guys and Dolls«, 2009). Anders de Beer. Es ging ein Raunen durch die Musicalszene, als sie »tick, tick…« ankündigte. Die Show solle Türen öffnen für junges Publikum. Der Werbe-Claim: »ein Musicalhit, bekannt durch die Netflix-Verfilmung«. Bekannt sollte die Show in Wien seit 2013 sein, da fand die ÖEA im Theater Drachengasse, produziert vom Vienna Theatre Project, statt. Meyer setzte ab 2011 mit einer Serie von Sondheim-Shows das Haus ein wenig näher an die Jetztzeit, de Beer geht weiter. Larsons Werk ist topaktuell, bietet Identifikationspotenzial, insbesondere für die Generation Prekär. »Eigentlich machen alle, die wir kennen, ganz was anderes, als sie eigentlich wollen.« »Wie gehts deinen Eltern?« – »Wie immer. Machen sich Sorgen, dass ich wieder bei ihnen einziehe oder verhunger.« – Sätze aus der Show, die heutige Probleme beschreiben.

Auf der Bühne als Musicalkomponist Jon: Jakob Semotan, ein Künstler, an dem man in Wien als am Musiktheater Interessierter nicht vorbeikommt. An der Volksoper ist er Solist in Musical, Operette – und Oper. Am Abend nach der Hauptprobe von »tick, tick…« stand er als Papageno in der »Zauberflöte« auf der Bühne, im Wiener Theater Bronski & Grünberg channelt er seit April Tom Waits auf Wienerisch in der Show »Thomas Wartet«. Begonnen hat er in der Kindercompany des Wiener Performing Center. Seine Range verleiht den Songs Larsons einen spannnden Vibe. Durch die Premiere kämpfte er sich mit Bronchitis und erhielt Lobeshymnen. So stark ist er. Als Michael an seiner Seite: Oliver Liebl, ehemaliges Ensemblemitglied am Musiktheater Linz, seit 2014 fix an der Volksoper. Und als Susan: Juliette Khalil, ebenfalls vom Konservatorium, seit 2015 in Musical und Operette an der Volksoper zu sehen.

Programmiert ist die Produktion unter dem Stichwort »Zugabe«, außerhalb des »normalen« Programms. Als Aufführungstermine werden Daten genutzt, an denen das Orchester Auswärtstermine hat. Gespielt wird vor 1200 Zuschauern im großen Saal (deutsche Dialoge, die Songs auf Englisch). All in geht de Beer nicht, nur die Vorderbühne wird bespielt. In der Mitte beherrscht ein drehbarer (was die Darsteller besorgen) multifunktionaler Koloss (Bühnenbild: Agnes Hasun) von einem Pfeiler die Szene (und blockiert die Sicht für die Zuschauer ganz rechts und links vorne). Er ist Kiosk, Diner, man kann ihn erklettern, und schon sind wir auf einem Hausdach. Links und rechts Sitzgelegenheiten für diverse Innenraumszenen. Im Hintergrund auf jeder Seite zwei Musiker:innen in Kojen. Viel an Platz, um sich zu bewegen, bleibt nicht. Doch Choreografin Tara Randell (an der Volksoper auch als Darstellerin aktiv) hat fabelhafte Arbeit geleistet. Die kleinen Tanzschritte und Moves wirken stets natürlich, reich an Stilistik, Gesten, mit Humor, Ironie und Pfiff, elegant und spritzig. Die Show ist von einer Körperlichkeit geprägt, die die Freundschaft von Jon, Susan und Michael unterstreicht. Der leichte Alltagstonfall, der ab und an einfließt in den Sprechszenen, unterstreicht zusätzlich die Vertrautheit.

„Das Stück ist energisch, witzig, lebensbejahend und schnell“, meinte Regisseur Fréderic Buhr vor der Premiere. Bisweilen hat er um einen Tick zu sehr aufs Tempo gedrückt. Zum Highlight der Show (praktisch ein Showstopper bei der Premiere) wurde die Szene »Why«, in der Michael Jon mit einem markerschütternden Schrei klarmacht, dass es Menschen gibt, mit denen es das Schicksal immer noch schlechter meint. Diese Momente sind perfekt inszeniert, eindrucksvoll interpretiert. Juliette Khalil ist gnadenlos mitleidlos als Jons Agentin, am Punkt als seine Freundin. Einzig ihre Interpretation von »Come to Your Senses« ist hinterfragbar, zu sehr fightet sie sich durch – dennoch ein spannender Zugang. Lotte de Beer sollte mit dieser Öffnung Richtung Zukunft all in gehen.

Ryan Donovan: »Queer Approaches in Musical Theatre«

donovan2023.jpgMit einer ersten Staffel von drei Büchern startet der Londoner Buchverlag Methuen Drama (als Teil des Mutterkonzerns Bloomsbury Publishing) eine neue, für Studenten konzipierte Schriftenreihe zum Thema Musical Theatre. Die Serie »Topics in Musical Theatre« bietet kompakte (um die 120 Seiten lange) Einführungen zu wichtigen Theorien, Konzepten, Formen und Elementen des Musiktheaters.
Drei Werke liegen vor: »Queer Approaches in Musical Theatre« (Ryan Donovan), »Race in American Musical Theater« (Josephine Lee) und »Hip-Hop in Musical Theater« (Nicole Hodges Persley). Zwei weitere Bände folgen im November: »Social Media in Musical Theatre« (Trevor Boffone) und »African American Perpectives in Musical Theatre« (Eric M. Glover).

Ryan Donovan, Autor von »Queer Approaches in Musical Theatre«, ist seit 2022 Assistenzprofessor für Theaterwissenschaften an der Duke University, einer Privatuniversität in Durham, North Carolina, USA. Dem Musicalgenre ist er seit seiner Jugend verbunden, ursprünglich als Performer. Als Tänzer stand er in lokalen Musical-Produktionen (»Annie Get Your Gun«, »Can-Can«, »Brigadoon« …) und 2007 als Swing bei der 50th Anniversary US-Tour von »West Side Story« auf der Bühne. Im Jahr 2011, damals war er 30, beendete er seine Bühnenkarriere und entschied sich für eine akademische Laufbahn. 2019 führte bei Jeff Hillers (»Bloody Bloody Andrew Jackson«) Soloshow »Grief Bacon« (eine wortwörtliche Übersetzung des deutschen Begriffs »Kummerspeck«; ein Wort, das es so im Englischen nicht gibt; üblich wäre »comfort food«) (Joe’s Pub, New York) Regie und war Dramaturg der Produktion. Im gleichen Jahr dissertierte er an der City University of New York mit der Arbeit »Broadway Bodies: Casting, Stigma, and Difference in Broadway Musicals Since ›A Chorus Line‹ (1975)«. Daraus entwickelte er sein 2023 erschienenes Sachbuch »Broadway Bodies: A Critical History of Conformity«. Donovan ist Mitherausgeber des »Routledge Companion to Musical Theatre« (2022) und Verfasser zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften.

Der Autor hat sich in seinen bisherigen Arbeiten als Meister darin gezeigt, die Kluft zwischen Anspruch und Umsetzung im Musicalgenre auf fesselnde Art und Weise darzustellen. So startet er in seine Dissertation mit der Sequenz: »›You’re not fat enough to be our fat girl.‹ ›Dance like a man.‹ ›Deaf people in a musical!‹ These three statements expose how the casting process for Broadway musicals depends upon making aesthetic disqualifications. In this dissertation, I study how embodied identities facing social stigmatization are represented on Broadway and contextualize the representation of these identities relative to the social movements from which they emerged. My research considers the politics of representation and makes clear that casting is always a political act, situated within a power structure favoring certain bodies. Previous scholarship on casting largely centers on race and ethnicity as the central issues; my research reframes the study of casting to focus on bodies, inclusive of race and ethnicity but especially relative to ability, gender, sexuality, and size. My research addresses the inclusion of ›other‹ kinds of embodied difference: Deaf and disabled bodies, fat female bodies, and gay male bodies.«

Dem Thema »Fat Stigma« beim Castingprozess widmete er sich 2019 in einem Beitrag im »Journal of American Drama and Theatre« (31/3) und arbeitete spannende Details heraus:»›Dreamgirls‹ and ›Hairspray‹ are the only hit Broadway musicals of the past fifty years where fatness is sometimes a prerequisite for playing the female lead. ›Hairspray‹ (2002) was the first Broadway musical to star a fat woman since Jennifer Holliday starred as Effie White in ›Dreamgirls‹ (1981). Bonnie Milligan’s casting as Princess Pamela in ›Head Over Heels‹ (2018) is arguably the first Broadway musical to star a fat woman in a role where the character’s size is not mentioned in the libretto, and the role could have gone to a traditional ingenue-type instead.«
Aber kann Hairspray wirklich als Musterbeispiel für »fat-positivity« gelten? Ein Faktor (von mehreren), der dagegen spricht, ist die Verwendung von »Fat suits«. Donovan: »The use of fat suits emblematizes this ambivalence because fat suits exacerbate the bind of inhabiting a fat body: being perceived as excess and lack, simultaneously too much and not enough. Yet using fat suits is more complicated than simply exercising artistic license. The fat suit itself reinforces stigma because it can be put on and taken off at will, an act unavailable to the fat person perceived as morally suspect for their inability to take off the weight. At the same time, it is the literal embodiment of the myth that inside every fat person is a thin person who is somehow more ›real‹.«

Mit dem Sichtbarmachen von Spannung zwischen einem theoretischen Konzept und der konkreten Umsetzung erzielt Donovan auch in »Queer Approaches in Musical Theatre« Wirkung. Drei Werke hat er sich als Fallstudien ausgesucht, »Fun Home«, »Cabaret» und »La Cage aux Folles«, zusätzlich hat er eine historische Fallstudie erarbeitet: Welche Auswirkungen hatte die Aids-Krise auf das Musiktheater und wie wird Aids in Musicals verarbeitet?
Vorab aber schreibt der Autor: »The fact that one short book can no longer address or contain all of the queer approaches in and to musical theatre is commendable for a form that historically closeted queer sexualities and genders. The fact that there are now more shows than can fit here is a profound measure of change.« Ein gar langer Weg wurde da zurückgelegt, denkt man etwa an Ethel Waters, eine bisexuelle Schwarze Schauspielerin und Sängerin, die in den 1940er-Jahren einer der höchstbezahlten Broadwaystars war, jedoch in einer Scheinehe leben musste. Und der Weg war für queere Performer, die nicht weiß waren, noch länger. Es dauerte bis in die 2000er-Jahre, ehe sie sich auf der Bühne akzeptiert sahen. Akzeptiert? »Roles for queer performers who aren’t white are still relatively scarce; for every Celie in ›The Color Purple‹ (2005) or Usher in ›A Strange Loop‹ (2022) – two of a handful of leading roles both Black and queer – there are dozens of roles for white gay men. This gap reflects the intersection of homophobia, transphobia, misogyny, and racism that exists within professional theatre and society at large. Queerness in musical theatre have not always been so inclusive.«

In Bezug auf »La Cage« bespricht Donovan unter anderem, inwieweit die zur Zeit der Entstehung des Musicals herrschende Aids-Krise ein Faktor im schöpferischen Prozess und in der Rezeption war. »He [Harvey Fierstein] also noted how Aids stigma functioned within the original company of ›La Cage‹, recounting that star Gene Barry ‚wouldn’t get on an elevator with the chorus boys in ›La Cage‹.‹ If the star of ›La Cage‹ had such an attitude toward his fellow cast members, it is surprising that the majority of the mostly heterosexual mainstream media offered the show itself a much more accepting reception than Barry did to his cast-mates.«
Eher wenig wohlwollend war die Reaktion des britischen Publikums: »London’s West End was a particularly inhospitable environment for ›La Cage‹« due to Aids-panic and homophobia when it opened there in 1986. It was one of few places where the musical flopped (Australia was another) and ›Variety‹ went so far as to suggest that there was ›some speculation that the Aids scare may have been a factor‹ in slow ticket sales. Producer Brown agrees that the timing was unfortunate: ›I do suspect that [Aids] had something to do with a shortened run when we got to London, because Aids had just gotten there, and it was on everybody’s minds and everybody’s lips, and I think a story about two men was not as well received as it might have been ar another time.‹ The failure may have also had to do with the fact that the London Palladium was far too vast for the production with more than 600 seats than the show’s Broadway home. The possibility also exists that British audiences simply found the show old hat given the long tradition of camp and drag in musical hall and panto shows.«
Anhand einer Analyse von zeitgenössischen Kritiken zu »La Cage« skizziert Donovon, wie sich die Einstellung der Presse im Lauf der Jahre und von Revival zu Revival geändert hat. So schrieb der Theaterkritiker Michael Coveney anlässlich eines britischen »La Cage«-Revivals von 2008, die Produktion von 1986 sei deswegen wenig erfolgreich gewesen, »because perhaps we were all Aids-ed out by then«. Donovan: »Even though Aids does not exist in the world of ›La Cage‹, it exists in the world where ›La Cage‹ plays and this dissonance has, perhaps, overdetermined its reception. And yet ›La Cage‹ still cannot be divorced from HIV/Aids, ever-present in its absence from the musical.«

Es ist ein kompaktes Werk, das Donovan, einer der derzeit spannendsten Sachbuchautoren im Musicalgenre, vorgelegt hat, und ein sehr empfehlenswertes, unter anderem auch wegen seiner Ausführungen, was der Begriff »queer« genau bedeutet, welche frühen Beispiele für Queerness es im Musiktheater gibt und wie die Presse und die akademische Welt mit dem Thema umgehen. Eine Fülle an Details, ein faszinierendes Netzwerk über alle Subgenres im Musicalbereich hinweg und jede Menge an Tipps zur weiterführenden Lektüre gibt es zu entdecken.

Ryan Donovan: Queer Approaches in Musical Theatre. Methuen Drama, London 2023. ISBN 978-1-35-024762-8. £10,99. bloomsbury.com

Ute Lemper: »Die Zeitreisende«

lemper2023.jpg»Unzensiert«, ihre erste Autobiografie, hat Ute Lemper 1993 geschrieben. Damals war die Künstlerin 30 Jahre alt. Drei Jahrzehnte später erzählt die heute 60-Jährige in ihrem Buch »Die Zeitreisende«, was seither passiert ist, startet aber wieder: am Beginn. Und so finden sich auf den ersten 160 Seiten des 2023 erschienenen Werks rund 90 Seiten von »Unzensiert« abgedruckt. Somit liegt dieses Mal erneut eine »vollständige« (1963 bis 2023) Autobiografie vor, was aus Marketinggründen nicht unklug ist. Lemper nutzt diese Zeitreise in die Zeilen des 1994 erschienenen Buches aber auch, um eine Metaebene hinzuzufügen und ihre Erinnerungen an die Erinnerungen aus aktueller Sicht zu kommentieren (und zu ergänzen). Da kommt ab und an ein wenig Ironie ins Spiel. So darf beim nochmaligen Eintauchen in die frühen Anfangsjahre natürlich nicht das einjährige »Cats«-Engagement 1983 in Wien fehlen, die Schilderung der Qualen der Proben sowie des darauffolgenden Spielalltags: »Als dann das Stück lief, trat ich ständig mit geschwollenen Handgelenken, Knien und Füßen, chronischer Bronchitis und einer Knochenhautentzündung unter den Fußballen auf. Mein Rücken war steif, die Stimmbänder gerötet, beim Aufwachen am Morgen fühlte ich mich wie eine 60-Jährige. Und so sah ich auch aus.« Lemper 2023 dazu ganz knapp: »Na hallo, so schlecht fühle ich mich aber heute nicht!!« – Nur richtig zitiert, wenn man nicht auf die beiden Ausrufezeichen vergisst. Zwei Ausrufezeichen sind indes immer um mindestens eines zu viel. So meinte F. Scott Fitzgerald einmal: »Cut out all these exclamation points. An exclamation point is like laughing at your own joke.«

Aber andererseits haben wir es bei der Zeitreisenden immerhin mit einer Künstlerin zu tun, die ohne Ghostwriter auskommt. Dass sie ihr erstes Buch selbst geschrieben hat, muss man ihr glauben, denn 2023 hält sie dazu fest: »Der Verlag bittet um eine Autobiografie, wie es vor 30 Jahren geschah. Ich zögere demütig, doch der Zauber des Wortes klingt verlockend. […] 1994 ist schon einmal eine Biografie von mir erschienen. […] Diese Biografie hatte den selbst gewählten Titel ›Unzensiert‹, da sie komplett selbst geschrieben war damals, 1993 in Berlin. Ich lebte noch in meiner Wohnung in Charlottenburg, die ich für die Zeit des ›Blauen Engel‹ angemietet hatte. Mittlerweile war mein damaliger Freund David Tabatsky eingezogen. Ich war im fünften Monat schwanger mit unserem ersten Kind, das dann Max heißen sollte. […] Obwohl der Henschel Verlag mir einen Ghostwriter vorgeschlagen hatte, stand meine Entscheidung fest. Ich wollte mich selbst an die alte Schreibmaschine setzen und tippen. Genug Tipp-Ex hatte ich schon eingekauft! Somit wurde diese Biografie […] ein wildes Gewölbe an Erinnerungen und Poesie. Der Henschel Verlag gab mir grünes Licht für alle bizarren Wortspiele und verrückten, unorthodoxen Satzketten, die niemals vorher erfunden waren. Jedoch sammelte ich präzise Erinnerungen meines Lebens und seiner Verflechtungen mit geschichtlichen Begebenheiten der damaligen Welt im Umbruch zwischen 1985 und 1994.« Ob Ghostwriting beim aktuellen Buch stattgefunden hat, wird nicht thematisiert. Im Impressum finden sich Angaben zu Projektleitung, redaktioneller Mitarbeit, Lektorat und Korrektorat, zumindest eine der Beteiligten arbeitet für eine Firma, die auch Ghostwriting anbietet. Ist die Zeitreise auch »unzensiert« entstanden?

Dass man bei der neuen Autobiografie bisweilen das Gefühl hat, von einem Erzählrausch umfangen zu werden, in dem man ab und an fast die Orientierung verliert, weil Voraussetzungen nicht so deutlich erzählt werden, wie es nötig wäre, weil es Dubletten gibt, unpräzise Formulierungen, die stutzig machen – ist all das eher ein Feature, kein Bug, weil Lemper das so formuliert hat? Man hätte es fixen können. Aber man muss abwägen bei jedem Eingriff: Wie viel an originalem Wortlaut opfere ich, um den Nebel zu klären? Und ist Nebel nicht auch etwas Schönes? Am Ende ist das Lektorat dafür verantwortlich, was im Buch steht. Eiserne Regel.

Die Zeitreise Ute Lempers lässt sich auf vielerlei Arten lesen. Manche Magazine haben sich die Liebe, die Beziehungen Lempers herausgepickt, wohl angefixt von der Passage: »Ich hatte viele Liebhaber gehabt, eigentlich in jeder Arbeitssituation, in jeder Bühnenproduktion, bei jeglichen Dreharbeiten zu einem Film. Warum auch nicht? Wenn ich jemanden attraktiv fand, wollte ich ihn ganz und gar erleben.“
Man kann ihr Buch aber auch als Beschreibung all der Krater lesen, die das Fortschreiten des Alters an und in uns zurücklässt. Erläuterungen ihrer Blessuren, ihrer Leiden füllen viele Seiten des Buchs. Seelische Leiden, körperliche Leiden. »Meine fünf Bandscheibenvorfälle zwischen Lenden- und Halswirbeln drücken auf die Nervenwurzeln und ich möchte an die Decke springen aufgrund der stechenden Schmerzen, die mir durch das rechte Bein in den Fuß fahren. Diese Verletzungen sind akkumulativ, aber die meisten darf ich dem Musical ›Chicago‹ in die Schuhe schieben. Hier wollte die Choreografin im Bob-Fosse-Stil viele Whiplash-Bewegungen. Ich warf 25 Mal während der Show meinen Kopf in den Nacken, als ob es kein Morgen gäbe. Wo war meine Vorsicht oder mein Selbstschutz?«

Seelisches Leid fügten Lemper Kritiker zu, die ihre Performance in der Berliner Produktion des »Blauen Engel« (1992) verrissen. »Manchmal schauten mich Kollegen seltsam an und wunderten sich, wie ich diese Demütigung ausgehalten hatte. Man gönnte mir nicht meinen Lebensmut.« Wie verhielten sich ihre Eltern in dieser belastenden Situation, konnten sie ihre Tochter trösten? »Meine Mutter verneinte gelegentlich die Verwandtschaft mit mir. Als sie an der Sparkasse von Münster auf ihren Nachnamen angesprochen wurde, sprach sie schnell abweisend ›Nein, nein, die Ute kenne ich nicht, sie ist nicht verwandt mit unserer Familie‹, während sie die wöchentlichen hundert Mark abholte. Wie sollten sie mit diesem Stigma umgehen, gestand sie mir. Ich schaute sie mit großen Augen traurig berührt an und murmelte fragend … warum?«

Spannend sind Einblicke in den »geschäftlichen Alltag« einer Künstlerin. »Zu Beginn der Zusammenarbeit mit meinem damaligen Management war eine Abmachung getroffen, und zwar fifty : fifty, eine glatte Teilung des Einkommens nach allen Produktionsausgaben. Üblich in der Branche sind 25 % für das Management, 75 % für den Künstler. Doch ich akzeptierte dankbar die Hilfe und war erleichtert für die Unterstützung.«
An einigen Stellen wird die Zeitreise zum Netflix-Thriller, etwa wenn Lemper erstmals schildert, was bei ihrem viel beachteten Auftritt im Sommer 1990 bei dem von Roger Waters veranstalteten »The Wall«-Konzert am Berliner Potsdamer Platz tatsächlich passiert ist. »1990 hörte ich die vielen missgünstigen Kommentare aus meinem Heimatland über die Tatsache, dass ich bei dem […] Konzert die einzige engagierte Deutsche war. Neidische, höhnische Kommentare, die ich beschämt versuchte zu ignorieren. […] Ich sang mein tolles Lied ›Mama loves her Baby‹ im Duett mit Roger Waters, und dann plötzlich, mit einem Schlag, war alles still und duster, Licht und Ton versagten und ein massiver Stromausfall unterbrach den Fluss der Show. […] Ich wunderte mich still in meiner Angst vor Deutschland, ob es sich hier um Sabotage handelte.« Dann, bei ihrem zweiten Song: »Ich stand frei und ungeschützt auf der Plattform, als mir wie aus dem Nichts plötzlich ein dickes Seil mit Knoten in den Körper schlug. Es kam von einem hohen Kran neben mir und jemand musste es mit voller Kraft in meine Richtung gezielt auf mich geschwungen haben. Es traf meinen Oberkörper und donnerte mich in Richtung einer Stahlsäule. […] Wer hatte dieses Seil in meine Richtung katapultiert? [… Alles schien] in eine Richtung zu deuten, die etwas mit mir und meinem Heimatland zu tun hatte. Antworten sollte ich nie bekommen.« Die durch den Stromausfall verlorenen Minuten wurden neu gefilmt. »Keiner kennt den Verlauf meiner Geschichte an diesem Abend.«

Ute Lemper hält es bei ihrer Zeitreise in etwa wie Christoph Waltz, der von US-Komiker Zach Galifianakis für die Talkshow »Between Two Ferns« einmal gefragt wurde: »Wie bereiten Sie sich auf einen Film vor?« und – etwas verkürzt – so geantwortet hat: »Das geht Sie gar nichts an. Diese Geschichten von Schauspielern und ihrer Vorbereitung – total überbewertet. Zauberer würden es auch nicht wagen, Ihnen zu erzählen, wie ihre Tricks funktionieren.« Ein bisschen Zauber steckt dahinter, was und wie Lemper hier von und über ihr Leben erzählt. Bühnennebel gehört zum Business. Verklärung ist Teil der Magie. Ganz große Kunst ist beispielweise die Schilderung eines Telefonats 1987 mit der 87-jährigen Marlene Dietrich oder die ebenfalls ausführlich geschilderte aufreibende Arbeit in Produktionen von »Chicago«. Ute Lempers Leben – ein lesenswerter Roman sozusagen.

Ute Lemper: Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen. Gräfe und Unzer Verlag, München 2023. ISBN 978-3-8338-8917-2. EUR 26,–. www.gu.de

Volksoper 2023/2024: »tick, tick… BOOM!«

Intendant:innen setzen Zeichen. Mit ihrem Spielplan. Auch. Aber nicht nur. Erinnern wir uns an die Musicalgala 2021 »We are Musical« im Raimund Theater. Ja, die, bei der sich sämtliche Musicaldarsteller:innen bei der lächerlichen so called Operettenparodie zum Affen machten. Bei der der Intendant mit einem gefühlt halben Meter dicken Spickzettelpack die Bühne betapselte und vorzulesen begann. Fragen drängten sich auf. Warum hat er alle Zettel mit? Warum so viele? Kann er nicht pro Ansage ein paar mitnehmen? Oder doch: Was, wenn er eigentlich Brillenträger ist und die Zettel gar nicht ablesen kann? Wenn er sie nur als Stütze dabei hat? Mit seiner Spielplangestaltung gibt Struppeck keine Rätsel auf. Kein Risiko. Und wenn, dann minimieren. Lieber ein Falco-Jukebox-Musical als ein originäres Skript. Aber ist doch originär. Okay. Nach Struppeck-Maßstäben. || Noch dazu, wenn man nicht alle Lorbeeren dafür einheimsen kann, weil: Idee von jemand anderen. Buch von jemand anderen. || Das wäre dann vielleicht einmal nicht bieder? Oder in anderen Worten »was originally developed by Vereinigte Bühnen Wien Gmbh (VBW) in Vienna »Franz Patay, CEO and Christian Struppeck, Artistic Director Musical« with music by George Fenton, book by Christopher Hampton and lyrics by Don Black«. 2015 schon war das Projekt auf Schiene. »Der dritte Mann«. Damals: Studiocanal: »Es freut uns sehr, mit den Vereinigten Bühnen Wien ein so herausragendes und renommiertes Wiener Kultur- und Theaterunternehmen als Partner gefunden zu haben, um diese großartige in Wien spielende Handlung auf die Bühne zu bringen. Nichts wäre passender, als ein solches Musical am Originalschauplatz zur Uraufführung zu bringen.« Jetzt passt London doch besser. Irgendwann muss man eben aufgeben und eingestehen, dass man es nicht schafft. || Wenn es so ist. || Der Fehler in der Intendanz Struppeck liegt beim Aushandler des Vertrags. Man hätte ihm dezidiert verbieten müssen, selbst Musicals als Intendant zu »schreiben«. So wird nach wie vor mediokrer Ware der Vorzug gegeben. Immer wieder. Bis endlich neue Zeiten anbrechen.
Womit wir bei der Volksoper sind. Lotte de Beer setzt mit dem Musical »tick, tick… Boom!« ein Zeichen für neue Zeiten. Okay, vielleicht hat sie einfach erkannt, dass sie neue Produktionen im Musicalbereich braucht, weil da auch Zuschauer ins Haus kommen. Und vielleicht hat sie ja von »tick, tick… Boom!« nur Netflix-Wissen. Wie sonst kommt sie auf die Idee, zu schreiben: »… und die Netflix-Generation darf gespannt auf die Premiere von Jonathan Larsons Musical ›tick, tick… BOOM!‹ sein«? Die Show ist 22 Jahre alt, nicht der neueste Shit der Generation Z oder Alpha. Ein Musical, keine Netflix-Serie, wenn auch vernetflixt. Bei Uraufführungen fehlen Verantwortlichen oft die Worte, weil sie keine Ahnung davon haben, wie sie etwas beschreiben sollen, über das noch nichts geschrieben wurde. Manchmal könnte man meinen, der Abstand der Kreativen zu ihrer eigenen Kreativität sei unüberwindbar. Über eine Show von Larson, die man live aufführen möchte, ist ein Netflix-Claim zumindest »originell«. Egal. Lotte de Beer macht etwas. Etwas, was nicht selbstverständlich ist für das Haus und was vermutlich mit der letzten Intendanz unvereinbar gewesen wäre. Und das ist ja schon mal ein Zeichen.

Volksoper 2023/2024

tick, tick… BOOM!
ab 28. Oktober
Musical für drei Personen und Band
Musik, Buch und Gesangstexte von Jonathan Larson
Scriptberatung von David Auburn
Vokal-Arrangements und Orchestrierung von Stephen Oremus
Original Produktion im Juni 2011 off-Broadway von Victoria Leacock, Robyn Goodman,
Dede Harris, Lorie Cowen Levy und Beth Smith
Neue deutsche Fassung der Dialoge von Timothy Roller

Musikalische Leitung: Christian Frank
Regie: Frédéric Buhr
Ausstattung: Agnes Hasun
Dramaturgie: Sylvia Schlacher / Peter te Nuyl
Jon: Jakob Semotan
Susan: Juliette Khalil
Michael: Oliver Liebl

West Side Story
ab 27. Jänner 2024
Nach einer Idee von Jerome Robbins
Buch von Arthur Laurents
Musik von Leonard Bernstein
Gesangstexte von Stephen Sondheim
Deutsche Übersetzung der Dialoge von Marcel Prawy
Musikalische Leitung: Ben Glassberg/
Tobias Wögerer
Regie: Lotte de Beer
Choreographie & Co-Regie: Bryan Arias
Bühnenbild: Christof Hetzer
Kostüme: Jorine van Beek
Dramaturgie: Magdalena Hoisbauer/
Peter te Nuyl

Tony: Anton Zetterholm / Oliver Liebl
Maria: Gemma Nha / Jaye Simmons
Anita: Ana Milva Gomes
Riff: Oliver Liebl / Peter Lesiak
Action: Peter Lesiak
A-Rab: Kevin Perry
Baby John: Liam Solbjerg
Snowboy: David Eisinger
Mouthpiece: Rico Salathe
Graziella: Teresa Jentsch
Velma: Eva Zamostny
Minnie: Ilvy Schultschik
Clarice: Melanie Böhm
Anybodys: Tara Randell
Bernardo: Lionel von Lawrence
Maria: Sophia Burgos
Chino: James Park
Pepe: Malick Afocozi
Indio: Dario Scaturro
Luis: Wei Ken Liao
Anxious: Emilio Moreno Arias
Juano: Jaime Lee Rodney
Rosalia: Sophia Gorgi
Teresita: Roberta Monção
Francisca: Danai Simantri
Estella: Luisa Montero de la Rosa
Marguerita: Elies de Vries
Doc: Axel Herrig
Detective Schrank: Nicolaus Hagg
Glad Hand: Georg Wacks
Jets: Michael Postmann
Jet Girls: Anneke Brunekreeft
Jet Girls: Laura May Croucher
Jet Girls: Josefine Tyler
Jet Girls: Bernadette Leitner
Sharks: William Briscoe-Peake
Shark Girls: Mariana Hidemi
Shark Girls: Maura Oricchio

Weiters:
Aristocats
ab 24. September (im Foyer)
Halbszenische Aufführung
Text und Musik von Richard Sherman, George Bruns, Terry Gilkyson & Al Rinker
Übersetzung der Songtexte von Heinrich Riethmüller und Nicolaus Hagg
Erzählfassung für die Volksoper von Nicolaus Hagg

PS: Eine ganz schlechte Idee der Intendanz ist die Ticketpreiserhöhung. Sie ist massiv und gerade in diesen Zeiten ein schlechtes Zeichen. Rollstuhlplätze von 79 Euro auf 90 Euro erhöhen? Ernsthaft? Für den Musicalbereich im Detail:
Kategorie I 92 (Neu: 99)
Kategorie II 79 (90)
Kategorie III 63 (72)
Kategorie IV 44 (52)
Kategorie V 26 (33)
Kategorie VI 11 (15)
Kategorie VII 7 (10)
Kategorie VIII 4 (5)
Kategorie IX 3 (4)
Kategorie X 4 (4)
Kategorie XI (4)
Kategorie XII 79 (90) Rollstuhlplätze (10. Reihe)!
Kategorie XIII 79 (90) Rollstuhlplätze Begleitplatz (10. Reihe)

Millie Taylor, Adam Rush: »Musical Theatre Histories«

taylor2023.jpgHat man sich mal darauf geeinigt, was ein Musical ist, geht es auf dem Gebiet der Bestimmungen spannend weiter. Wie definiert man etwa, welches »Ursprungsland« ein Musical hat? Und warum ist das zunehmend diffizil? Mit Fragen wie diesen beschäftigen sich Millie Taylor und Adam Rush in vorliegendem Buch. Ausgangspunkt ist folgende Überlegung: Wir leben im Zeitalter der sozialen Medien, des globalen Fernsehens und der Online-Kommunikation, dennoch bleibt das Musiktheater eine Kunstform, die bis heute vor allem mit zwei physischen Orten verbunden wird: dem West End und dem Broadway. Auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans, an die 5000 Kilometer voneinander entfernt, gelten diese beiden Epizentren in London und New York als die »Heimat« des Musicals. Und das, obwohl das Musicalgenre aus einer Verbindung von europäischen und amerikanischen Einflüssen entstanden ist, geprägt von Immigration und Kolonisation, und heute längt als globalisiertes Produkt in den unterschiedlichsten Ländern wie China, Südkorea, Australien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich etc. eine wesentliche Rolle spielt. (Europäische Leser müssen mitbedenken, dass das Buch aus dem Blickwinkel der USA/England geschrieben ist.)

Zwei interessante Beispiele stellen die Autor:innen an den Anfang ihrer Überlegungen. Ist »The Bodyguard« (2012) als englisches oder amerikanisches Musical zu bezeichnen? Es basiert auf einem US-amerikanischen Film aus dem Jahr 1992, auf Musik der US-Sängerin Whitney Houston, wurde von einem Amerikaner verfasst, und Broadway-Star Heather Headley spielte die Uraufführung – am West End, wo die Show von einem britischen Team (Regie, Produzenten) entwickelt wurde. Am Broadway selbst war die Show nie zu sehen.
Ein anderes Beispiel: »The Lion King«. Die Bühnenversion basiert auf einem Film des US-Unternehmens Disney. Die Handlung spielt in Afrika. Die Darsteller sind großteils afroamerikanisch, im Produktionsteam der Show sind Deutsche ebenso wie Jamaikaner. Stilistisch reichen die Einflüsse von Japan bis Indonesien, das Musical ist weltweit zu sehen. Die meisten Theaterwissenschafter sehen es trotz aller Einflüsse als US-Musical, während »The Bodyguard« als britisches Musical eingestuft wird, obwohl es um US-amerikanische Inhalte geht.
Wenn also die Zuordnung zu einem »physischen« Ursprungsland schon so schwammig geworden ist, warum nicht die Geschichtsschreibung des Musicalgenres gleich anders angehen. Genau darum geht es »Musical Theatre Histories«. Ein Musterbeispiel: »Oklahoma!« gilt, weltweit anerkannt, als das erste »Book Musical«. Die Autor:innen stellen die Frage: »However, what if we consider the history of musical theatre not from the perspective of form or integration, but in relation to the representation of gender or the global distribution of stage productions? What is Oklahoma!’s significance then?«

Acht Möglichkeiten der Geschichtsschreibung werden behandelt. So lautet ein Kapiteltitel: »Journey to the past: From revival to revisal«. Anhand von »Hello, Dolly!« (1964) etwa lässt sich eine ganz spezielle Form des Revivals gut skizzieren: 1975 kam von »Hello, Dolly!« am Broadway eine Replika-Produktion auf die Bühne – die Darsteller waren neu, aber Look & Feel der Aufführung blieben unverändert. 2017 wurde »Hello, Dolly!« erneut originalgetreu am Broadway produziert, diesmal mit Bette Midler in der Titelrolle, aber dem Originaldesign, der ursprünglichen Orchestrierung bis hin zum Poster-Design und dem Artwork der Cast-CD im Stil der Erstproduktion. Die Autor:innen finden in diesem Kapitel interessante Wege, die verschiedenen Methoden des Revivals durchzudeklinieren, bis hin zu den neueren Trends Revision und Reinvention, beginnend mit dem Beispiel »Me And My Girl« (1937), das 1985 von Stephen Fry und Mike Ockrent für eine neue Generation umgeschrieben wurde und in dieser Fassung mehr als acht Jahre am West End und drei Jahre am Broadway zu sehen war. »Musicals come and go; they are rarely filmed or published as scripts or scores in full (particularly in Britain), though segments or selections do tend to be available, and past musicals tend only to be accessible through a series of paratexts (a cast recording, a film version, a streamed performance etc.). Musical theatre past thus can only become musical theatre present through revivals. Some producers look for sure-fire hits and audience pleasers in troubled times, while others capitalize on nostalgic memories and associations. Some directors seek to honour past productions, and others critique contemporary politics. Altogether, the expanding archive of revivals and revisals is extremely diverse.«

Im Kapitel »Waving through a window. From intertext to Instagram« beschreiben Millie Taylor und Adam Rush ausgehend von Roland Barthes und dem Begriff der Intertextualität ein neues Verständnis davon, wo ein Stück stattfindet. Als Beispiel verwenden sie unter anderem »Urinetown«: »Officer Lockstock welcomes the audience to Urinetown: The Musical (2001) by saying: Well, hello there. And welcome – to Urinetown! Not the place, of course. The musical. Urinetown the place, is … well, it’s a place you’ll hear people referring to a lot throughout the show. Elsewhere, the Narrator in Into the Woods (1987) welcomes the audience with Once upon a time … in a far-off kingdom … lived a young maiden … a sad young lad … and a childless baker … with his wife. In Cabaret (1966), the Emcee welcomes the audience to the Kit Kat Klub with the words Willkommen, Bienvenue, Welcome. In all of these, and many other, musicals, clues are given to the audience at the start of the show that the musical is neither realistic nor integrated and that a narrator figure sits outside (or sometimes both outside and inside) the world of the show. These characters speak directly to the audience about musicals and performances (known as reflexivity); they reference well-known stories and use language that is familiar from other texts. Not only is such language familiar from literature, but also from other musicals, television shows, films and elsewhere.« Oder wie Barthes es in »Der Tod des Autors« formuliert hat: »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen.« Entwickelt man diese Gedanken weiter, ist der Weg, den das Musicalgenre derzeit nimmt, ein logischer. »Consequently, rather than thinking of a musical theatre work simply in relation to the written source material or even a production of that work in one or several physical locations, we start to understand that a musical expands to include its ephemera, its offshoots, the social media, digital discussions and performances as well as cast albums, programmes and performer blogs. Rather than a text being interpreted just by directors and producers, audiences or readers can take ownership of their experience. A musical becomes not just an expensive performance in a fixed form but exists as a catalyst for a network of new and diverse, globally available, digital texts way beyond our original transatlantic axis.« »Dear Evan Hansen«, auf das sich der Kapiteltitel bezieht, steht für eine besonders spannende Entwicklung: »Here, we arrive at the audience or reader having transformed themselves into creators of content that references the musical source text that may already be an adaptation.« Fans sehen Shows online, die sie live nie sehen werden, sie erstellen online Compilation-Videos, remixen diverse Auftritte. Mit Bootlegs erreichen sie in Fan Communities einen gewissen Status. Auf der anderen Seite interagieren Darsteller zunehmend über Social Media mit ihren Fans. Beispiele dafür bieten die Autor:innen en masse. »Les Misà©rables (1985) was adapted from Victor Hugo’s 1862 novel, for example, but it now exists in a web of different productions and paratexts, which includes various cast recordings, film versions, song covers, social media accounts, merchandise and more. In this way, musicals take on a new life that transcends nationalities, languages, cultures and, as we have seen, media, in a web that is more commonly known as popular culture, and which is (arguably) increasingly democratized. Interpretation and, more recently, creation of content have become the domain not only of writers and producers but of audiences and fans. The expansion of social media, interactivity and the digital domain into musical theatre is likely to continue with the potential to generate further evolutions in the form.« Leseempfehlung (unter anderem auch wegen der vielen weiterführenden Buchtipps).

Millie Taylor, Adam Rush: Musical Theatre Histories. Expanding the Narrative. Methuen Drama. Bloomsbury Publishing, London 2023. ISBN 978-1-3502-9376-2. $ 119,99. bloomsbury.com

Theater in der Josefstadt: »Jeder stirbt für sich allein«

In einem Interview meinte Josef Ernst Köpplinger eine Woche vor der Premiere von »Jeder stirbt für sich allein«: Nein, Musical sei diese Produktion keines, sondern ein »Schauspiel mit Musik«. Nicht das erste Mal, dass er über die Definition von Musicals sinniert hat. 2014 sagte er in einer Diskussion am Konservatorium Wien: »Es wird gesungen, gespielt und getanzt. Es tut mir leid, aber die Zauberflöte ist ein Musical.« Im Programmheft zum Stück wird aus dem »Schauspiel mit Musik« ein »musikalisches Schauspiel«. Auf der Website des Theaters ist von »Anklängen an Kurt Weill oder John Kander (Cabaret)« die Rede. Die Kritiker schrieben von einer »modernen Oper«, »Eingroschenoper«, »Revue«, einem »Singspiel«, »vorsintflutlichen Brecht-Imitat«, »Martergesang«, mehrheitlich von einem: Musical.

Kern der Dramatisierung (Libretto von Susanne Lütje und Anne X. Weber) des letzten Romans von Hans Fallada »Jeder stirbt für sich allein« (1947) ist das Schicksal der Arbeiterfamilie Quangel. Ein authentischer Fall. Traumatisiert vom Tod seines Sohnes Franz an der Front beschließt der Vater Otto Quangel (Michael Dangl), gegen Hitler vorzugehen. Innerhalb weniger Monate schreibt er auf über 100 Postkarten Botschaften gegen das Regime, deponiert sie in öffentlichen Gebäuden Berlins. Sie sollen in Umlauf kommen, zum Nachdenken anregen. Fein gearbeitet ist dieser Otto Quangel, wie er oft scheinbar ohne Emotionen auf der Bühne agiert und nur wenn es gar nicht mehr geht und etwa das Leben seiner Frau Anna (Susa Meyer) auf dem Spiel steht, Emotionen zeigt, einmal aufgelöst in einer effektvoll inszenierten Slapstick-Szene. Trotz der Emotionslosigkeit ahnt man die Kraft, die es ihn kostet, kalt zu bleiben, um nicht aufzufallen, seine Familie zu schützen, nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Menschen um ihn. Bis zum Kipppunkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt. Siegfried Walther und Elfriede Schüsseleder liefern eine brillante Miniatur als jüdisches Ehepaar Rosenthal, das den Nazi-Schergen zum Opfer fällt. Robert Joseph Bartl (Obergruppenführer Prall) skizziert mit bewusst gesetzten dicken Strichen die Niederträchtigkeit, Mordlust, bestialische Brutalität, die sich in Systemen entwickelt, in welchen eine definierte Gruppe von Menschen ihres Anspruchs auf Würde und Freiheit beraubt wird. Den Nachtklub lässt er schließen wegen »illegalen Glücksspiels, entarteter Musik – aber eigentlich, weil ich’s kann«.

Wittenbrink vorzuwerfen, er habe keine »Melodien« geliefert, wie das Teile der Presse taten, geht ins Leere. Der Score, live gespielt von fünf Musikern mit Christian Frank am Klavier, dient gezielt der Atmosphäre, fängt, laut Wittenbrink, »das Lebensgefühl in einer grausamen Diktatur, zwischen Bedrohung und Angst mit Momenten voller Hoffnung und fast schon verzweifelter Lebenslust musikalisch ein«. Ein Musterbeispiel dafür ist Max Harteisen, UFA-Schauspieler, Sänger, Liebling von Joseph Goebbels, gespielt von Martin Niedermair. Wittenbrink hat für ihn zwei Songs geschrieben zwischen Swing und Schlager. Wittenbrink kannte die Stimmen der Schauspieler:innen und komponierte extra für sie. Niedermair interpretiert seine Lieder im Ambiente des Nachtklubs »Paprika«, Marcello De Nardo (Klenze) legt als genderfluider Garà§on mit einer fiebrigen Performance den Background. Die Witze fliegen tief. Was machen mit einem Bild Hitlers? Nachtklubbesitzerin Eva Andrà¡ssy (Nadine Zeintl): »Aufhängen oder an die Wand stellen.« Wandern am Grat des Unsagbaren.

Das Liebesduett zu Beginn des Stücks, interpretiert von Paula Nocker (Trudel) und Tobias Reinthaller (Franz Quangel): Singen am Abgrund, man findet keine gemeinsame Harmonie. Wie auch, wenn er in den Krieg zieht, sie in den Widerstand geht und ermordet wird, er an der Front fällt. Die beiden finden keine passenden Worte, so viel könnte man den einfachen Reimen des Liedes als Interpretation unterlegen. Vielleicht überfordert Wittenbrink damit Teile seines Publikums. In einer der von mir besuchten Vorstellungen stöhnte die Dame neben mir gleich zu Beginn dieses Duetts: »Jessas!«

Das Bühnenbild von Walter Vogelweider zeigt sich erstaunlich mühelos variierbar. Es sind wie im Stil des Brutalismus dicke grobe hohe Quader, die sich blitzschnell auf der Drehbühne zu einem Wohnzimmer, einem Nachtlokal und zu diversen anderen Schauplätzen gestalten lassen. Spielt die Handlung im Kommissariat, ist die Wand im Hintergrund blutrot, nur eines der interessanten kleinen Details (Licht: Pepe Starman, Josef E. Köpplinger). Es lohnt sich, die Feinheiten im Score Wittenbrinks und der Regie Köpplingers zu studieren. Ein packendes Theatererlebnis, eine grandiose Ensembleleistung.

Kammerspiele Wien: »Ich hab (k)ein Heimatland«

»Nach der letzten Vorstellung der Reise der Verlorenen im Theater in der Josefstadt hab ich ein paar jiddische Lieder gesungen. Die haben Herbert Föttinger gefallen. Und das hat uns dazu inspiriert, diesen Abend gemeinsam zu gestalten. Aber nur singen war ihm nicht gut genug. Nein. Er wollte eine Geschichte. Meine Geschichte.« Das sind die ersten Worte Marika Lichters in ihrer Show »Ich hab (k)ein Heimatland«. Die Künstlerin hat in den letzten Jahren den Untertitel (»Das war’s noch lange nicht«) ihrer 2017 erschienenen Biografie »Mut kann man nicht kaufen« verwirklicht und sich neue Theaterwelten erschlossen. In Daniel Kehlmanns Stück »Die Reise der Verlorenen« (2018), das von der Flucht von 937 Juden aus Deutschland im Jahr 1939 handelt, spielte sie eine jüdische Sängerin, in Schorsch Kameruns Konzertinstallation »Herrschaftszeiten (noch mal?)« (2022) hinterfragte sie Machtsysteme von früher und heute. Mit »Ich hab (k)ein Heimatland« bringt sie die Geschichte ihrer Familie und ihre jüdische Identität auf die Bühne. Susanne F. Wolf hat mit Lichter einen theaterwirksamen Text verfasst. Die Autorin hat sich großartig in den Duktus Lichters eingefühlt.
Als Marika Lichters Mutter 2004 starb, so erfahren wir in der Autobiografie der Künstlerin, fand sie in deren Wohnung verschiedenste Text- und Bilddokumente. Sie hatte nicht die Kraft, diese gleich zu studieren, sondern verstaute alles in zwei Schachteln. Erst als sie die konkrete Arbeit an ihrer Autobiografie aufnahm (rund zehn Jahre später), setzte sie sich näher mit der Hinterlassenschaft auseinander. Hier beginnen die im Buch erzählte Geschichte und das Theaterstück sich zu verschränken. Im Soloabend wird von einer Schachtel voller Dokumente berichtet. Diese sind der Stoff des Stücks. Aus diversen Boxen ist auch das symbolträchtige und funktionelle Bühnenbild konstruiert.
Susanne F. Wolf strukturiert den Abend in kurze Textpassagen, in denen Marika Lichter vom Schicksal ihrer Großeltern und Eltern berichtet. Verwirrt zeigte sich die Rezensentin der »Presse« über den distanzierten Tonfall, den Lichter einsetzt. Doch wie soll man sonst davon erzählen, dass die eigenen Großeltern bei einem Pogrom in Lemberg 1918 getötet wurden, ohne sich zumindest beim Sprechen mit dem Kunstgriff Distanz zu schützen. Zwischen den einzelnen Erinnerungen an die Eltern und Großeltern und das eigene Leben singt Lichter themenmäßig passende jiddische Lieder, begleitet von Klarinette, Akkordeon, Geige, Kontrabass. Es sind jene Passagen, in denen sich die Künstlerin Emotionen gestattet und packend gestaltet, so den Song »Es brent« von Mordechai Gebirtig. Er schrieb das Lied als Reaktion auf die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. 1942 wurde er im Krakauer Ghetto von den Nazis ermordet. »Es brent« kritisiert das Zusehen und Geschehenlassen. Das ist auch sichtlich ein Anliegen Lichters. Doch nicht mit erhobenem Zeigefinger (Regie: Herbert Föttinger), sondern mit betroffen machenden Geschichten bis in die Gegenwart, wenn sie etwa anmerkt, dass vor ein paar Jahren am Türschild des Hauses, in dem sie ihr Büro hat, ein Zettel angebracht wurde: »Immer diese Judenbengel. Rudolf Scholten, Ioan Holender, Ariel Muzicant, Marika Lichter«. Lichter: »Nicht sehr angenehm, aber man lernt, damit zu leben.« Marika Lichters Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte geht vielleicht weiter. Der Schlusssatz ihrer Autobiografie lautet: »Wahrscheinlich […] schreibe ich noch noch einmal ein kleines Buch – in Erinnerung an meine Familie, die es nach dem Krieg nicht mehr geben hätte dürfen, wäre es nach den Nazi-Verbrechern gegangen.«

Landestheater Linz: »Catch me if you can«

2013 fand in den neu renovierten Wiener Kammerspielen die europäische Premiere des Musicals »Cach me if you can« statt. Werner Sobotka formte aus der Broadway-Show ein packendes Theatererlebnis für die im Vergleich zur Broadway-Produktion kleine Bühne. Mit Rasmus Borkowski stand ein charismatischer Performer im Zentrum des Geschehens. 2022 ging im Großen Saal des Musiktheaters Linz in der Regie von Ulrich Wiggers die Oberösterreich-Premiere von »Catch me if you can« (in der Übersetzung Sobotkas) über die Bühne. Hatte man es 2013 quasi mit dem »’68 Comeback Special« von Elvis zu tun, war die Linzer Inszenierung à  la Peter-Alexander-Show getunt. Der Vergleich bietet sich an, wird doch die Karriere des Scheckbetrügers und Hochstaplers Frank Abagnale jr. (Gernot Romic) mittels eines Kunstgriffs als TV-Show in Szene gesetzt.
Das große Plus der Linzer Version ist das Bruckner Orchester, das hier im Gegensatz zur kleinen Besetzung an den Kammerspielen groß aufspielen kann. Fand das Orchester am Broadway auf der Bühne Platz und sorgte so für Dynamik, sitzen die Musiker in Linz im Orchestergraben. Dynamik versucht Regisseur Wiggers damit zu erzielen, dass er die Show als Ausstattungsorgie in Szene setzt, die aber einige Male ins Absurde schlittert. Beispiel: »Eine and’re Haut«. Ein Song, wohlgemerkt, in dem Superhelden als Metapher eingesetzt werden. Am Bett von Frank jr. sehen wir eine große beleuchtete Superheldenfigur. Plötzlich baumelt von der Decke des Saals des Landestheaters eine Spiderman-Puppe, auf die Bühne seilt sich ein Superheld ab, bald tanzen elf verkleidete Darsteller in Superheldenkostümen, und das bei einem Songmotiv, das sich ohnedies durch die Show zieht. Ein effekthaschendes Entertainmentspektakel. Und: nicht nur hier wird eine Soloszene in eine Tanzszene mit Ensemble aufgeweicht und eher zum Showcase des Choreografen (Jonathan Huor).
In den Effektreigen reihen sich Projektionen und ein Screen ein. Damit alles auch wirklich klappt, schneit es dann in der Szene vor der Pause nicht nur auf der Bühne, sondern auch mittels Projektion.

Doch nicht nur durch übertriebene Ausstattung wird von Hauptdarstellern abgelenkt. Musterbeispiel: Frank Abagnales Verfolger, FBI-Agent Carl Hanratty (Karsten Kenzel), hat eine große Tanznummer: »Don’t break the rules«. Am Broadway war sie furios, in Wien maßgeschneidert und cool umgesetzt von Martin Berger. In Linz sind wir bei »Dancing with the Stars« gelandet. Hanratty macht ein paar linkische Tapser, sitzt dann an einem Tisch, während das Ensemble ihn umtanzt. Man gewinnt den Eindruck: Er kann es halt nicht. Es sollte doch für einen Choreografen, der für Shows wie »So you think you can dance« gearbeitet hat, kein Problem sein, einen der Stars der Show souverän aussehen zu lassen.
Ein weiteres Beispiel: die Tanzszene beim Bossa-Nova-Solo »Lass von dir hören!« von Paula Abagnale (Daniela Dett). Wieder macht die Hauptdarstellerin ein paar Moves, dann rücken zunehmend Ensembletänzer mit einer Contemporary-Choreo (glänzend dabei wie in jeder Tanzszene: Thomas Höfner) in den Fokus. Am Broadway war dies eine hinreißende Ballroom-Sequenz mit klarem Fokus auf Paula. Die Dekonstruktion von Solo-Momenten in Richtung Ensemblenummern, die spürbar ist, raubt den Hauptdarstellern und dem Musical etliches an Wirkung.

Die zwei heimlichen Stars der Produktion sind Nicolas Tenerani als Frank Abagnale sr. und Celina Dos Santos als Brenda Strong. Tenerani liefert eine Masterclass in Sachen Eleganz und Rat-Pack-Coolness. Bei seiner tragischen Szene gegen Ende der Show lässt ihn die Regie im Stich. Dos Santos punktet mit natürlichem Schauspiel und schafft es, selbst in einer unfassbar kitschig inszenierten Szene mit ihrer Interpretation von »Flieg, flieg ins Glück« den Fokus auf sich zu ziehen. Ja, »Catch me if you can« ist eine Parodie, aber man muss erkennen, wo die Grenze zur Lächerlichkeit überschritten wird. Karsten Kenzel spielt Hanratty durchgehend als Karikatur, spricht wie in einem schlecht synchronisierten B-Movie-Krimi, geprägt von nerviger Quengeligkeit. Der Kommissar vom Land als Wannabe-Columbo. Gernot Romic schlägt sich als Frank Abagnale jr. wacker, ist aber (nicht nur) in der entscheidenden Szene »Goodbye« nicht Star des Geschehens. Der Song wurde als Mischung aus Marathonlauf auf der Bühne und um den Orchestergraben und toten Gesten inszeniert. Von der Sogwirkung dieses ikonischen Songs bleibt wenig. Am Ende sinkt Romic zu Boden. Typisch Musicalklischee. Am Broadway und in Wien griffen die Hauptdarsteller noch einmal nach den Sternen, wie Rockstars es tun.

Kevin Clarke (Hg.): »Breaking Free«

»Breaking Free« hat Kevin Clarke seinen im Oktober erschienenen Sammelband über »Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals« genannt. »Breaking Free« ist der Titel eines Songs aus Disneys TV-Film »High School Musical« (2006) und soll, so schreibt der Autor, das »Aufbrechen von Beschränkungen und das selbstbewusste Sich-neu-Finden perfekt« ausdrücken. »Zudem hat High School Musical auch die aktuelle Ära des Musicals in Film und Fernsehen eingeläutet. Mit HSM wurde eine neue Generation von Fans fürs Genre begeistert, nicht nur wegen der Frisur von Zac Efron.«
Im selben Band analysiert Ralf Rühmeier unter dem Titel »This is me. Disney und Diversity« die »Queer-Codierung« des Unterhaltungskonzerns Disney, unter anderem am Beispiel des 2022 veröffentlichten Disney+-Films »Better Nate Than Ever«: »Nate ist offensichtlich schwul. Allerdings fällt in den 94 Filmminuten das Wort gay kein einziges Mal. Dafür gibt es blumige Umschreibungen. […] Wenn sich Nate vor seiner Tante outet, klingt das folgendermaßen: Ich bin der einzige Junge, der den ganzen Text von Corner of the Sky kennt. Das ist nicht schön. Natürlich reagiert die Tante verständnisvoll. Ich verspreche dir, dass du nicht der Einzige bist, der alle Songtexte aus Pippin kennt. Nur ist nicht jeder so mutig, sich allen mitzuteilen.« Laut Rühmeier hat Disney damit in diesem Film das 2022 in Florida von religiös-konservativen Fundamentalisten durchgesetzte (und seit dem 1. Juli 2022 gültige) »Don’t say gay«-Gesetz zu 100 Prozent umgesetzt. In dem Gesetz geht es um eine Reform des Bildungswesens: In Klassenräumen und Kindergärten wird jegliche Diskussion über sexuelle Orientierung und Genderidentität, die nicht der Heteronorm entspricht, bis zur dritten Klasse untersagt. Rühmeier weiter: »Was bedeutet das für die Bühne? Wird die Disney Theatrical Group jemals eine queere Figur in einer ihrer Shows zeigen?«
Das Stichwort Bühne ist wichtig, denn Clarke skizziert, ohne das zu wollen, im Vorwort seines Buchs eigentlich eine recht düstere Zeit für das Musicalgenre an sich – und damit meine ich Musical, das sich dort abspielt, wo es als Liveerlebnis stattfindet: auf der Bühne –, wenn er schreibt: »Diese jugendlichen Fans, die mit Social Media und Internetaktivismus aufgewachsen sind, gehen ganz anders mit Musicals um als die Generationen davor. Sie stellen andere Ansprüche und artikulieren diese anders. Und sie werden von Musicalmacher*innen anders bedient. Musicals sind heute global verfügbar – als Musik bei Spotify und iTunes, gefilmt und über YouTube geteilt, über Streamingdienste, in Diskussionsforen, als Hashtag.« In einem Interview mit dem WDR meinte der Autor unlängst, es sei toll, zu sehen, dass nach den Corona-Lockdowns so viel via Streaming den Weg nach Deutschland gefunden habe, »in Umgehung der Bühnen der Stadt- und Staatstheater und von Stage Entertainment«, die sich an LGBTQ-Themen nicht wagen, weil sie, so Clarke, nicht dürfen oder wollen, keine Schauspieler finden oder nicht glauben, dass sie damit über längere Zeit die Hallen füllen können. – Das scheint mir eine eher dystopische Zukunftsprognose für das Musicalgenre zu sein. Sollten wir nicht eher aufhören, Bühnenerlebnisse mit Filmen und Serien gleichzusetzen?
Clarke verwendet im Buch und in Interviews die Metapher vom Tsunami. So schreibt er, es sei in der angloamerikanischen Musikszene ein »Tsunami von LGBTQ-Stücken ins Rollen gekommen«. Doch ist ein Tsunami nicht stets mit Vernichtung verbunden? Auch in manchen Beiträgen des Autors und Herausgebers ist mitunter diese Tendenz zur Übertreibung auszumachen. Ein Beispiel: Die Musikwissenschafterin Elizabeth Wollman unterrichtet am Baruch College und der City University of New York. Sie ist spezialisiert auf die Geschichte des US-amerikanischen Bühnenmusicals. In ihrem Artikel für »Breaking Free« beschreibt sie die Entwicklung der US-amerikanischen Musicalforschung. Etablieren konnte sich diese ab den mittleren bis späten 1990er-Jahren, davor gab es »wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum Musical«, erst am Übergang zum 21. Jahrhundert begann (auch im Zusammenhang mit dem Thema LGBTQ) »eine rundum neue Form der Musicalforschung zu boomen«, und zwar insofern, als dass nun auch Wissenschafter sich mit dem Thema beschäftigten, während es davor eher Journalisten, Komponisten, Publizisten etc. waren. Wollman argumentiert klar und datenbasiert. Subsumierend könnte man sagen, dass aufgrund der enormen Produktivität auf US-amerikanischen Bühnen und einer allgemeinen gesellschaftlichen – inklusiven – Weiterentwicklung die US-Theaterforschung im Bereich Musical nachgezogen hat. Kevin Clarke fügt diesem gelungenen Beitrag ein Postskriptum hinzu. Leider sind seine Ausführungen teils faktenbefreit. Zitat Clarke: »In einer Buchrezension vom Sommer 2021 schreibt Martin Bruny in musicals […], dass die Geschichte der Kunstform Musical (und Operette) in manchen Ländern aufgrund bestimmter Hemmnisse nicht geschrieben wird beziehungsweise über die Landesgrenzen hinaus nicht bekannt ist. Er nimmt Österreich als Beispiel: Die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Musicals in Österreich auseinandersetzen, ist gering. […] Die Gründe? Der Markt. Musicalinteressierte kaufen keine Bücher, sagen die Verlage. Nicht mal Biografien von Musicalstars schaffen respektable Auflagezahlen. Neuerscheinungen werden dadurch immer rarer. Bleibt die akademische Aufarbeitung, doch auch da ist das Interesse überschaubar. Für Deutschland nennt Bruny Wolfgang Jansen als eine Erzählerpersönlichkeit und dessen Cats & Co. von 2008 als wegweisend. Von allen anderen Büchern, die es weltweit zu Musicals und einem Reframing des Musicals gibt, nehmen weder Bruny noch musicals Kenntnis.« Diese Interpretation meiner Zeilen ist in mehrfacher Hinsicht falsch. In meiner Buchkritik ging es in der zitierten Passage eben nur um Österreich und im Vergleich dazu Deutschland. Seit mehr als 15 Jahren widme ich mich im Magazin »musicals« interessanten Buchneuerscheinungen aus der ganzen Welt, nicht zuletzt auch unter dem LGBTQ-Aspekt. Aber nicht nur das, in »musicals« gab es in den letzten Ausgaben einen Schwerpunkt zum Thema »HIV und Musicals« (Nr. 203, S. 20–23) von Thomas Thalhammer, ein Plädoyer für mehr Frauen im Musical (Nr. 209, S. 70–83) von Lisanne Wiegand, Produktionen werden stets auch unter einem queeren Blickwinkel analysiert, so sich das anbietet. Die »Unlust am Diskutieren«, die der Autor in Bezug auf das Thema LGBTQ verspürt, wird er nicht in etwas Lustvolles umwandeln können, wenn er mit Unterstellungen operiert.
Der deutsche Musikkritiker Manuel Brug und der australische Opern- und Theaterregisseur Barrie Kosky werfen in »Breaking Free« in ihren Beiträgen unter anderem äußerst spannende und nicht zuletzt ernüchternde Blicke auf die Wiener Musicalszene. Sie könnten damit einen Anfangspunkt gesetzt haben zu einer kritischen Aufarbeitung der Wiener Musicalgeschichte ab 1980. Bisweilen freilich könnte man die von Manuel Brug etwas gar düstere Einschätzung vielleicht etwas aufhellen, wenn man sich mal von der »Tsunami«-Metapher Clarkes verabschiedet und die gesellschaftliche Transformation, die der Entwicklung des Musicals zugrunde liegt, eher als Evolution auffasst. Nehmen wir als Beispiel das Jukebox-Musical »Ich war noch niemals in New York«. In Bezug auf das Thema LGBTQ notiert Brug über die Hamburger Uraufführung dazu: »Selbst für das 2007 komplett neuerfundene Ich war noch niemals in New York […] mussten mit dem schwulen Maskenbildner Fred und dessen Freund Costa Antonidis zwei sehr flachgezeichnete Tunten her […]. Immerhin bekamen die beiden Figuren mit dem Ehrenwerten Haus und Griechischer Wein zwei der vom Publikum begeistert mitgesungenen Hits.« Beim Lesen dieser Zeilen dachte ich mir: Was würde Andreas Bieber wohl zu dieser Einschätzung sagen? Er hat die Rolle des Fred nur wenige Jahre nach der Uraufführung in Wien gespielt. Im vorliegenden Buch kommt er nicht zu Wort. Ich bat ihn um ein Statement, und er ließ mir seine Sichtweise zukommen: »Was IWNNINY anbetrifft, so habe ich das seinerzeit in Hamburg als Zuschauer auch etwas klischeehaft gesehen, was besonders die Figur des Fred angeht. Für die Neuinszenierung 2010 in Wien war das tatsächlich zunächst ein Grund für mich, NICHT zur Audition zu gehen. Als man mich dann doch fragte, ob ich Zeit und Interesse an der Rolle hätte, war es meine klar ausgedrückte Bedingung, meinen Fred ganz natürlich und in erster Linie als lebensfrohen Optimisten darzustellen, der zufällig halt schwul ist. Das hat letztlich dazu geführt, dass der KUSS zwischen Costa und Fred, der in Hamburg noch im Abgang verschwand, bei uns ganz normaler Bestandteil der Geschichte war, der natürlich und offen gezeigt werden durfte. Wo man vorher vielleicht noch dachte, das Publikum damit zu überfordern, gab es hierfür in Wien sogar Szenenapplaus … Wir sind da inzwischen schon sehr viel weiter gekommen, was das Thema LGBTQ in Musicals anbetrifft!«
Manuel Brug spricht auch das VBW-Musical »Elisabeth« an und meint dazu unter anderem: »Eine Diskussion zu queeren Perspektiven auf Elisabeth gab’s übrigens nie, weder in Feuilletons, Fachzeitschriften noch Fan-Foren«. Andreas Bieber dazu: »Wir reden natürlich über 1992! Eine Zeit, wo über queere Perspektiven noch nicht so frei und selbstverständlich berichtet oder auch diskutiert wurde. Der androgyne, zumindest bisexuelle TOD deutete all das natürlich an, schon durch seine Optik (Uwe Kröger), aber es blieb in erster Linie etwas GEHEIMNISvolles, das man damals vielleicht noch nicht so genau thematisieren wollte …«
Zusammenfassend: Mit Schuldzuweisungen, die Medien, einzelne Journalisten würden sich für das Thema LGBTQ nicht interessieren, werden wir vermutlich nicht weit kommen. Medien reflektieren und analysieren, was im Bereich Theater passiert, eingebettet in gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen. LGBTQ ist ein wichtiges Thema im Theater – schön, dass der Sammelband »Breaking Free« auf 328 Seiten einer Vielzahl an diskussionswürdigen Inhalten innerhalb des LGBTQ-Spektrums Raum gibt.
Kevin Clarke (Hg.): Breaking Free. Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals. Querverlag, Berlin 2022. ISBN 978-3-89656-322-4. € 29,–. querverlag.de

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